Systemisches Denken und Kunst
im Bild von E. A. Nay

Eindrücke einer Ausstellung

Was soll man tun im Urlaub bei Regenwetter? Vor kurzem geh ich in die Kunsthalle Emden und komme in eine Ausstellung von Ernst August Nay. Ich bin kein großer Kunstkenner und so war ich dankbar, eine Führung zu erleben, durch die mir die Bilder nahe gebracht wurden. Und ich war fasziniert.

Nay: Ekstatisches Blau

Ekstatisches Blau

Was auf den ersten Blick wie eine Anhäufung von Farbtupfern erscheint, eröffnete sich mir bei näherer Beschäftigung als das sichtbare Gegenstück zu einigen meiner Grundgedanken zur Psychologie und zur Psychotherapie.

Nay malt farbige Scheiben. Sie unterscheiden sich in Größe, Farben, Stärke des Aufstrichs und der Sättigung und einigen anderen Elementen, die ein Kunstkenner sicher besser beschreiben kann. Ich erfuhr, wie Nay selbst beeindruckt gewesen sein soll von der Entwicklung seiner Bilder. Die erste Scheibe auf einem Blatt schafft eine deutliche Zentrierung und lässt eine Figur auf einem Hintergrund entstehen. Eine weitere Scheibe stellt sofort eine Beziehung her zu der ersten. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen beiden, das geprägt ist von den unterschiedlichen Faktoren: der Größe und der Farbe der Scheiben, ihrer Position zueinander und vielem mehr. Und so geht es weiter. Je mehr Scheiben sich auf dem Bild versammeln und zueinander in Beziehung treten, desto mehr tritt die einzelne Scheibe als "Individuum" zurück und gewinnt ihre Qualität und Bedeutung im Miteinander des gesamten Bildes, das als solches auch wieder als ein "Ausschnitt" aus einem viel größeren Zusammenhang erscheint. Durch das Miteinander der einzelnen Scheiben entstehen sogar neue Qualitäten: das Bild geht in die räumliche Tiefe, es entwickelt sich aus der Zusammenführung einzelner Scheiben eine Richtung oder Linienführung, es entstehen Rhythmen und eine innere Dynamik wie in der Musik. Es war für mich nachvollziehbar, dass Nay die Jazzmusik liebte und versucht hat, die Rhythmen und das Lebensgefühl dieser Musik in die Bildersprache umzusetzen.

Sphärisch Blau 1962

Und diese Korrespondenz zwischen Musik und Malerei sah ich auch zur Gestaltpsychologie und zum systemischen Denken als der Grundlage meiner therapeutischen Arbeit. Für mich ist ein Individuum, der Patient, der mir gegenübersitzt, nur in seinem Lebenskontext verständlich. Ohne diesen Kontext mit zu sehen, entsteht ein völlig falscher oder besser gesagt unvollständiger Eindruck seiner Person, in dem wesentliche Qualitäten fehlen.

Wenn ich denn ein Nay wäre, könnte ich mir vorstellen, den Patienten, der mir gegenübersitzt, in eine Scheibe zu verwandeln und ihn zusammen mit anderen Scheiben in ein Bild zu setzen, das insgesamt seinen Lebenskontext darstellt - so, wie ich ihn sehe. Eben genau so, wie Nay das wohl konnte. Ich könnte mir vorstellen, ein Genogramm wie das von C.G. Jung als Bild zu malen und dies als ein Symbol zu sehen, das die familiären Beziehungen dieses Mannes repräsentiert (teils auch im Sinne der Symbolik von C.G. Jung selbst). Und je mehr solcher Symbole ich auf diese Weise male, könnte ich vielleicht an der Ähnlichkeit dieser Bilder, an der Wiederholung bestimmter Bildelemente und Strukturen meine eigene Rolle als wahrnehmender Beobachter erkennen. Es würde deutlich, ob ich meine Patienten gerade in einer "blauen Phase" male oder in einer grünen oder wie auch immer.

Für mich war das ein faszinierender Gedanke.

HWS

PS Ein interessantes Verfahren zur Symbolisation innerer Prozesse durch gemalte Bilder und deren späterer Auswertung (teils im Sinne von C.G. Jung) ist zu finden bei Peter W. Gester

siehe auch: